Bei meinem Freiwilligendienst in Kerala, Südindien, war nicht nur meine soziale Ader gefragt: Die scharfe Küche, die Lebensweise und die sozialen Umgangsregeln stellten erst mal eine Herausforderung dar.
Das braune Zeug, was die kleine Frau im Sari mir vorsetzt, sieht erst mal wenig vielversprechend aus. „Kerry“ sagt sie, wenigstens hörte sich für mich so an. Aha, das ist wohl das berühmte indische Curry. „Eating, eating“, sagt sie bevor sie mehrere kreisrunde Fladen, die eierkuchenähnlichen Chapati, auf meinen Teller fallen lässt, „eating, eating.“ Weil ich keine Anstalten mache sofort loszulegen, legt sie noch mal ein Chapati drauf. „Eating, eating“ wiederholt sie mit einer zum Mund greifenden Geste, damit ich es ja auch richtig verstehe. Ich probiere ein Stück Chapati mit etwas Curry darauf – und ringe nach Luft… Das ist SCHARF!!!
Aber natürlich war ich nicht nur wegen des Essens im Shaloam Polio Home, einem Heim für Kinder mit Körperbehinderungen durch Kinderlähmung. Die bereits eingeschulten Kinder und Jugendlichen konnten aufgrund ihrer Behinderungen an Unterkörper und Beinen die Schule zu Hause nicht erreichen und lebten deshalb nicht bei ihren Eltern. Die Schule hier war nur etwa 300 Meter von dem Heim entfernt in einem Dorf, das sich über einen riesigen Berg verteilte. In dem Heim erhielten die Kinder außerdem nach Bedarf Physiotherapie und Gehhilfen, Beinschienen oder Prothesen. Vor Ort hatte ich als Freiwillige die Aufgabe, 23 Jungen und Mädchen im Alter zwischen zehn und 22 Jahren nachmittags zu beschäftigen, mit ihnen Hausaufgaben zu machen und das Programm zum Weihnachtsfest mit ihnen zu gestalten.
Noch nie bin ich so freundlich und herzlich empfangen worden und selten schneller und selbstverständlicher Teil einer Gemeinschaft geworden! Die Zeit, die Steffi, die andere Freiwillige, und ich am Nachmittag mit den Kinder verbrachten, waren die einzigen anderthalb Stunden, die die Kinder als Freizeit am Tag hatten: Direkt nach dem Kaffee ab 16 Uhr bis etwa halb sechs, wenn einer der Jungen die Glocke für das abendliche Lernen läutete. Da es für die Kinder die einzige freie Zeit am Tag war, verzichteten wir bald darauf, auch diesen kurzen Zeitraum für sie durchzuplanen. Mit den Jungen spielten wir meistens verschiedene Kartenspiele, kommentierten zusammen mit ein paar Herumsitzenden das von den fitteren Jungen gespielte Cricketspiel oder unterhielten uns einfach mit ihnen. Mit den Mädchen sangen wir aus mitgebrachten Liederbüchern, bastelten und malten, spielten Spiele oder unterhielten uns einfach.
In den Morgen- und Abendstunden versuchten wir bei den Hausaufgaben zu helfen, soweit es uns möglich war. Am Vor- und Nachmittag, wenn die Kinder in der Schule waren, verbrachten wir die Zeit oft in der Küche, wo wir Gemüse schnippelten und uns die Rezepte aufschrieben. Oder wir wuschen per Hand unsere Wäsche, und etwa zweimal die Woche gingen wir in die Stadt, wo wir die Möglichkeit hatten zu telefonieren oder E-Mails zu lesen. Die Wochenenden verliefen ähnlich wie die anderen Tage. Ein Highlight der Woche stellte der Sonntagnachmittag dar: Ab etwa drei Uhr, also genau zum Nachmittagskaffee, lief im malayalmischen Fernsehen ein Spielfilm. Und egal wie müde die Kinder von der Woche waren, nie verpassten sie auch nur einen Film!
Der Kulturschock blieb natürlich nicht aus – andere Länder, andere Sitten. Zum ersten Mal sah ich es, als ich zufälligerweise in den Speisesaal kam. Einer der jüngeren Jungen, etwa 13 Jahre alt, diskutierte mit dem stellvertretenden Heimleiter Rejimon. Worum es ging, konnte ich mit meinen wenigen Brocken Malayalam nicht verstehen. Dann streckte der Junge dem Heimleiter die Handflächen entgegen. Rejimon, der sonst immer freundlich und zu Späßen aufgelegt war, griff nach einem Stock und schlug diesen mehrfach auf die Handflächen des Jungen. Die ehemaligen Freiwilligen hatten uns während der Vorbereitungstreffen schon darauf vorbereitet, dass die Kinder zur Strafe geschlagen werden. Für uns waren diese Situationen trotzdem schockierend. Wir mischten uns aber nie ein, das hatte man uns so geraten. Zu dieser ungewohnten Lebensweise gehörte auch der sehr harte Alltag der Kinder, der morgens um fünf Uhr mit Lernen für die Schule begann und gegen elf Uhr nachts nach dem Lernen endete.
Abschließend möchte ich noch eine kurze Empfehlung an die Leute abgeben, die einen Freiwilligendienst in welchem Erdteil auch immer erwägen: Wenn es euch möglich ist, nehmt die Möglichkeit eines Freiwilligendienstes wahr! Es sind die lebensprägendsten Erfahrungen, die ihr dort macht und das kann zukünftig sogar eure Berufswahl beeinflussen. Man macht nicht immer nur positive Erfahrungen, aber sicher sind auch das Erlebnisse, die man später nicht missen möchte! Und wie funktioniert das, wenn die Leute vor Ort wenig englisch sprechen und man selbst die Landessprache Malayalam nicht beherrscht? Ich kann da beruhigen: Es finden sich da Mittel und Wege. „You come in my room!“ pflegten die Mädchen im bestimmten Ton zu sagen, wenn sie fanden, dass es mal wieder Zeit fürs Kartenspielen, die Freiwilligen im „Indian style“ Umstylen oder Singen war. „Come, come“ riefen die kleineren Jungen, wenn sie uns zeigen wollten, dass sie gerade irgendeines von den tausend im Heim herumlaufenden Insekten gefangen, oder bereits alles für die fünfte Partie UNO des Tages vorbereitet hatten…
Übrigens: Das Polio Home in der Form gibt es mittlerweile nicht mehr. Kinderlähmung gilt in Kerala zum Glück schon seit einigen Jahren als ausgestorben und die letzten Kinder des Polio Homes haben nach und nach das Heim verlassen. Das Heim steht immer noch und es wird überlegt, wie es in Zukunft genutzt werden soll. Vielleicht werden zukünftig andere Projekte dort einziehen.