Annika (20) macht ihr Diakonisches Jahr im Ausland in einem Kindergarten in Budapest. Das bedeutet Flamenco-Unterricht, Paprika zum Frühstück und Roma-Musikabende, aber auch Kommunikation ohne Worte und Kulturschock.
Aus meinem Reisetagebuch, September 2011: „Endlich angekommen. Wir finden es irgendwie perfekt, weil es so unperfekt ist hier. Fünfter Stock hinter Gittern, Betrunkene vor der Tür, Hochhausreihenaussicht und mein Stuhl brach auch gleich unter mir zusammen. Aber ich fühle mich wohl und freue mich. Die total netten Kinder lachen, obwohl ich die ganze Zeit nur frage, ob sie hungrig oder müde sind, und ihnen immer wieder meinen Namen sage.“
In Budapest hieß es, neue Eindrücke auf allen Ebenen im Rekordtempo zu verarbeiten, sich in der Stadt zu orientieren, die Arbeit kennen zu lernen, die WG einzurichten. Nebenbei fühlten wir uns wie die Könige Ungarns, wenn Touristenschwärme an uns vorbeiströmten („Wir WOHNEN hier!“). Meine Arbeit im Kindergarten kam mir auf den ersten Blick perfekt vor, wobei die Kommunikation fast nur non-verbal stattfand (in meiner Einsatzstelle spricht außer einem fünfjährigen Halbamerikaner niemand Englisch). Ich hatte Glück, dass es mir nicht schwer fällt, auf Menschen zuzugehen, weil die Ungarn selten den ersten Schritt machen oder ein Gespräch beginnen.
Aus meinem Reisetagebuch, Oktober 2011: „Ich hätte gerade Lust zu verstehen, was man mir sagt. Lust sagen zu können, was ich denke. Lust, alle Welt vollzuquatschen, den Kindern Albernheiten ins Ohr zu flüstern. Manchmal auch Lust, in Rock und Bluse das Sagen zu haben, statt verständnislos lächelnd das Geschirr zusammen zu räumen. Lust, ein geordnetes Leben zu führen mit stabilen Möbeln und Nachbarn, die morgens Brötchen einkaufen gehen statt sich noch in der Dämmerung Schnaps Nr. 1 in die Kehle zu schütten. Lust auf eine Aufgabe, die ich bin.“
Nach einigen Wochen wurde es anstrengend, wortlos Kinder kennen zu lernen, wenn man ihre Namen nicht einmal von dem unterscheiden kann, was sie einem sonst sagen wollen. Nach einer anfänglichen Phase kulinarischer Toleranz ekelte mich ungarisches Essen nun hauptsächlich – fett und frittiert und süß. Irgendwann war meine Eingewöhnungsphase im Kindergarten beendet und die „richtige“ Arbeit fing an, wobei mir das niemand wirklich mitteilte. Ungarn kommunizieren indirekt, sie sprechen Probleme nicht an, sondern machen durch ihre Laune deutlich, dass etwas nicht richtig ist. Absprachen scheinen hier einfach nicht zur gängigen Arbeitsweise zu gehören. Da ich aber neu, sprachlich beschränkt und an klare „deutsche“ Ansagen gewohnt war, misslang das Einfügen ins System „Csipkebokor Kindergarten“ ein wenig. Mein Leben in Budapest teilte sich in superschön (Zusammensein mit den anderen Freiwilligen, Entdeckungen in Budapest) und furchtbar (Arbeit).
Aus meinem Reisetagebuch, Dezember 2011: „Die Begegnungen mit anderen Freiwilligen machen einen riesigen Teil der Erfahrung aus. Ich weiß jetzt, dass ich mein Projekt ändern muss, damit ich etwas TUN kann in Budapest. Fast drei Monate sind um und ich muss mich hier neu definieren, weil ich mir falsche Vorstellungen gemacht habe.“
Mit diesem Scherbenhaufen im Rucksack fuhr ich zu unserem Zwischenseminar in einem verschneiten Dorf am Donauufer. „Kisoroszi“ mit seinen kleinen bunten Häusern und Kopftuch tragenden Frauen auf Fahrrädern verwandelte sich für ein paar Tage in ein junges Miniatureuropa. Die Freiwilligen kamen aus allen Teilen des Kontinents. Wir mischten mit Roberto aus Spanien Sangrilla, lauschten mit Baiba lettischer Musik, diskutierten über die Arbeitsmarktsituation in unseren Heimatländern. Ein sehr intensiver Austausch, gleichzeitig war ganz viel Zeit für Reflexion über die eigene Situation im Freiwilligendienst. Der Vergleich war hilfreich, genauso wie die Rückbesinnung auf Ziele und eigene Stärken. Zurück in Budapest hatte ich vor allem ein Wort im Kopf: NEU. Ich krempelte nicht nur meinen Teil unseres Zimmers um, sondern versuchte auch, konkret gegen meine Probleme vorzugehen: Im Kindergarten führte ich Gespräche mit meinen Kolleginnen und meiner Chefin und bat um Freiräume und direkte Kommunikation. Ich spürte immer mehr, wie meine sprachlichen Fortschritte mir das Zutrauen der Kinder schenkten – meine Arbeit begann, wieder Spaß zu machen.
Aus meinem Reisetagebuch, Januar 2012: „Ich bin hier gezwungen, komplett aus mir selbst heraus zu leben. Hier ist niemand, der mir Noten gibt für das, was ich mache. Niemand gibt mir vor, was ich bis wann machen soll: Ich habe hier nur meine persönliche Einschätzung als Maßstab. Am Anfang dachte ich, man gibt mir Freiräume und Dinge, um die ich mich kümmern soll – schließlich habe ich gemerkt, dass ich sie mir selber ausdenken und vor allem einfordern muss.“
Das neue Jahr begann mit viel Entdeckungslust und Motivation. Ich entwickelte für meine Projekte mit den Kindern einen Plan mit der Überschrift „Horizonterweiterung“. Mir war so oft Desinteresse an fremden Ländern und Sprachen, Angst vor fremden Kulturen begegnet, dass ich meine Chance und Aufgabe darin sah, den Kindern Neugierde auf Fremdes zu vermitteln. So ging ich konstruktiv an die Planung der Aktivitäten mit den Kindern, von Ausflügen und kulturellen Veranstaltungen. Der Spaß an meiner Arbeit wuchs in den Februar hinein geradezu exponentiell an. Mein „Projekt-Freiraum“ musste aber noch ein wenig erkämpft werden und an so manchem vor Papierschnipseln auf unserem WG-Boden verbrachten Nachmittag fragte ich mich schon, wozu ich mir das eigentlich antat. Die Antwort gaben mir schließlich die begeisterten Kinder – und mehr brauchte ich dann auch nicht mehr. Für sie war ich hier, nicht, um meine Kolleginnen zufrieden zu stellen. Wobei die plötzlich auch merkten, dass sie von meiner Kreativität profitieren können. Auf einmal musste ich nicht mehr Vorschläge bringen und nachfragen und bitten, sondern sie kamen zu mir und baten mich um Impulse. Die Faschingsdekoration, Theaterstückkostüme, Material für Themenwochen, Lieder, Spiele… Ich bin jetzt also nicht mehr nur „Mädchen für alles und die Kinder“, sondern auch kreativer Kopf.
Aus meinem Reisetagebuch, April 2012: „Ich hab grad einfach nur schöne Lebensgefühle: Die Busfahrer singen, Vögel fliegen schwarz und pink-orange über bibbernde Morgenmenschen hinweg, die Kinder umarmen mich ständig, spielen mit mir Schach, Budapest und Ungarn sind jetzt so normal für mich, dass so viele schöne Dinge plötzlich aufblühen, ich erkenne, wie viel Tradition und Alltag ich im Kindergarten miterleben darf, ich steige ohne mit der Wimper zu zucken in Trolley, Metro und Tram, meine Wand ist kunterbunt, mein Kalender voll, der Himmel ist einfach immer nur Sonne; ich muss nur an Kinderhände in Zeitungsschnipseln, an Kirschen in Gelee und Café-Jazzmusik, an Kulturfluten und all die Möglichkeiten um mich her denken: Ich bin glücklich. Weil ich nicht mehr zu Fehlern und Pflichterfüllung und oberflächlichen Vergnügungen und Platzsuchen gezwungen bin. Ich bin hier (!) in jedem Lebensbereich.“
Alle Infos zum Diakonischen Jahr im Ausland hier.
Annika macht ein Diakonisches Jahr im Ausland (DJiA) über die Evangelischen Freiwilligendienste für junge Menschen FSJ und DJiA gGmbH.
Ihr Dienst wird gefördert als Europäischer Freiwilligendienst über das Programm „Jugend in Aktion“ der Europäischen Kommission.