Öznur (21) ist Türkin und arbeitet als Heilerziehungspflege-Azubi in der mobilen Pflege. Spielt das denn in der Ausbildung überhaupt eine Rolle, ob sie Türkin ist? Sollte es eigentlich nicht. Tut es aber, immer wieder.
Mit vierzehn fühlte sie sich in der Schule vom Lehrer benachteiligt, bloß weil sie Türkin ist. Eine nervige Nachbarin hat ihr ständig Vorträge darüber gehalten, wie schlimm Türken sind. Und die ganzen blöden Türken-Witze – furchtbar. „Das hat mich damals total traurig gemacht. Und auch wütend – ich war richtig auf Krawall aus!“, erzählt Öznur. „Aber jetzt bin ich viel reifer geworden und weiß: Ich muss mir das nicht gefallen lassen. Ich will ein positives Beispiel sein und versuchen, selber was zu ändern.“ Diese neue Einstellung, sagt die 21jährige, ist durch ihre Ausbildung gekommen.
Zuerst hatte Öznur ja überlegt, ob sie Kunst studieren soll. Sie liebt es zu malen und zu zeichnen. Aber dann, während eines Schulpraktikums in der 7. Klasse in einem integrativen Kindergarten, wusste sie plötzlich: Die sozialen Berufe sollten es sein. Malen würde ihr Hobby bleiben. „Ich hatte vom ersten Moment an überhaupt keine Berührungsängste gegenüber den behinderten Kindern!“, erzählt Öznur stolz, „Gleich am ersten Abend habe ich gedacht: Das fühlt sich richtig gut an.“ Die 21jährige, die trotz ihrer dunklen Haare gar nicht besonders türkisch aussieht (ein Foto von sich möchte sie uns nicht zeigen), beschreibt sich als Typ, der weiß, was er will und schnell Entscheidungen trifft, immer nach dem Motto: Wenn es mir gut tut, muss es gut sein.
Ab der 9. oder 10. Klasse hat sich Öznur richtig Gedanken über die Berufswahl gemacht und sich dann für das Fachabi im Sozial- und Gesundheitswesen am Berufskolleg Bethel entschieden. Das berufsbegleitende letzte Jahr hat sie im Bethel-Kindergarten „Wirbelwind“ verbracht. „Das war auch super! Einmal habe ich ein autistisches Kind betreut, das keinen Augenkontakt halten und keinen Körperkontakt ertragen konnte. Da fragt man sich schon: Was mach ich falsch? Aber dann habe ich mit ihm Buchstaben ausgeschnitten, und plötzlich hat es mich umarmt! Da ging die Sonne für mich auf.“ Und wie kam es dann, dass Öznur in der Heilerziehungspflege gelandet ist, statt Erzieherin zu werden? In der Bethel-Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo sie jeden Tag frische Milch mit den Kindern holen ging, kam Öznur mit Erwachsenen mit Behinderung ins Gespräch – und hat für sich gemerkt, dass sie das sogar noch lieber macht als sich mit Kindern zu beschäftigen.
Nun ist Öznur also im Anerkennungsjahr ihrer Heilerziehungspflege-Ausbildung und arbeitet im Ambulant Unterstützten Wohnen Brackwede in Bielefeld. Sie macht Hausbesuche und berät ihre Klienten: „Ich gebe ihnen Tipps zur Hygiene, also wie sie sich richtig waschen. Ich begleite sie zum Einkaufen, zu Behördengängen, ich helfe ihnen bei Papierkram oder gehe mit Ihnen zum Arzt. Das Tolle daran ist, dass sich die Klienten unsere Beratung freiwillig aussuchen, sie sind nicht dazu verpflichtet. Darum freuen sie sich immer auf uns.“ Oft sitzt Öznur auch im Büro und schreibt Berichte über ihre Hausbesuche. Und immer wieder wird sie in eine andere Beratungsstelle gerufen, die auch zu Bethel gehört – weil sie türkisch kann: „Ich werde oft als Dolmetscherin gebraucht, wenn Immigranten zur Beratung kommen. Zum Beispiel kam neulich eine türkische Mutter mit einem behinderten Sohn. Die wollte bei einem Workshop mitmachen und ich habe ihr dann erklärt, wie sie sich dafür anmelden kann.“
In solchen Momenten freut sich Öznur, dass sie mit ihrem türkischen Hintergrund helfen kann. Manchmal nervt es sie aber auch, dass sie sich deswegen rechtfertigen muss: „In Bewerbungsgesprächen werde ich ständig dazu ausgefragt. Na gut, ich gehöre dem Islam an und arbeite in einer evangelischen Einrichtung, da kann ich schon verstehen, dass es Fragen gibt. Aber was mich stört: Ich kann zumindest in dieser Einrichtung wegen meiner Religion keine Teamleiterin werden. Dabei finde ich, ich bin fit für die Teamleitung, fitter als manche deutschen Kollegen!“ Öznur findet, es ist ein Vorteil, dass sie in beiden Welten zu Hause ist: Sie weiß, wie es bei den türkischen Familien zu Hause abgeht und kann sich in die Immigranten unter den Ratsuchenden reinversetzen. „Trotzdem bin ich in Deutschland geboren, fühle mich integriert und kenne mich auch im Christentum aus.“
Auch sonst macht Öznur als Türkin dieselben Erfahrungen, die jeder deutsche Auszubildende in einem sozialen oder pflegerischen Beruf auch macht. Zum Beispiel die Erfahrung, dass man die Sorgen der Klienten nicht zu nah an sich ranlassen darf. „Manche Schicksale berühren einen besonders“, erzählt die 21jährige, „Eine meiner Klientinnen musste oft in die Klinik. Sie hatte eine Borderline Störung mit Depressionen und Selbstmordgedanken. Ich dachte die ganze Zeit: Hoffentlich tut sie sich nichts an! Ich wurde richtig paranoid! Irgendwann hat mein Freund gesagt: Mach mal locker! Und das hat mir die Augen geöffnet.“ Öznur weiß jetzt: Man muss sich auch abgrenzen können. Man muss selber eine starke Persönlichkeit sein, um in den sozialen Berufen bestehen zu können. „Ich bin durch meine Erfahrungen auf der Arbeit viel reifer als andere Gleichaltrige“, findet sie, „Manchmal stört mich das richtig, dass ich so erwachsen denke.“ Aber im nächsten Moment ist sie auch wieder richtig stolz auf sich, dass sie mit 21 schon so weit gekommen ist und bald einen Beruf hat, in dem sie wirklich etwas bewegen kann.