Hannahs Blog: Blind für einen Tag – Selbstversuch der Seminargruppe

„Wenn ihr eine Frage habt, dann sprecht einfach drauf los. Ich kann euch ja nicht sehen“, sagt Kerstin Gaedicke. Sie ist blind. Jeder der Seminarteilnehmer achtet penibel genau darauf, nicht zu laut zu sein. Kein Füße scharren, Stühle Schieben, leise Quatschen. Jedes winzig kleine Geräusch scheinen die Wände heute schallend laut zu reflektieren. Eine Teilnehmerin hebt befangen die Hand. Auf halben Weg lässt sie sie wieder sinken. Stattdessen wispert sie in die Runde: „Warst du schon einmal im Freizeitpark?“. „Ja, ich bin auch Achterbahn gefahren“, antwortet Kerstin. „Einen Doppellooping bemerke ich aber nicht“, erzählt sie und lacht.

Kerstins Leben: Von Masseurin zur Unternehmerin
Kerstin spricht ruhig, beständig, selbstsicher. Sicherer als sich manch einer der Jugendlichen gerade fühlt. Ihre Augen haben auf Grund der Erbkrankheit „Grüner Star“ keine Sehkraft. Der Vogel, der keiner ist, tauchte ihre Welt von klein an in Dunkelheit. Ihre Augen zeigten ihr in ihrer Kindheit noch Schemen. Heute ist davon nur noch hell und dunkel geblieben. Gesichter sah sie nie.

Referentin Kerstin Gaedicke © Gabriel Wolf/blickwechsel.berlin

Kerstin war schon vieles in ihrem Leben:  Masseuse, Paralympics-Bronze-Gewinnerin, Abiturientin einer Abendschule für Sehende, studierte Sozialpädagogin, Filmbildbeschreiberin für das Fernsehen, heute selbstständige Unternehmerin. Vor allem war sie aber schon immer viel mehr als blind. Das möchte sie uns heute stellvertretend für alle Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung vermitteln. Auf ihrer Website schreibt sie Klartext. „Berührungsängste abbauen – Sicherheit erlangen – kompetent kommunizieren“, ist das erklärte Ziel ihres Workshops. Hätten wir den gleichen Mut und Elan gehabt, unseren Weg zu finden? Fest steht, dass uns diese Frau, die dort so locker auf ihren Blindenstock gelehnt steht, uns die Augen öffnet für ein Thema, mit dem die wenigsten von uns sich bisher befasst haben.

„Passt das Outfit, Schatz?“
Wieder hebt eine Teilnehmerin die Hand. Ebenso schnell sinkt sie wieder. Aber diesmal fragt sie deutlich: „Wie stellst du dir dein Outfit zusammen?“.
„Mein Kleiderschrank hat System“, sagt Kerstin. „Vogel-T-Shirts zu Vögeln zum Bespiel. Außerdem habe ich ein Farberkennungsgerät.“ Sie hält einen kleine schwarze Kasten in der Hand. Der sieht aus wie ein zu groß und klobig geratener MP3-Player. Als er ihr T-Shirt scannt, tönt das kleine Gerät zielsicher: „Türkis.“ Dann beschreibt sie ein Phänomen, mit dem auch sehende Frauen mitfühlen. „Meinen Lebenspartner könnte ich nicht um Hilfe bitte. Er sagt immer: ‘Passt’. Ob das Outfit nun wirklich gut aussieht, wüsste ich trotzdem nicht“. Sie lacht. Die Wände reflektieren das Lachen der Freiwilligen. Kerstin hat Licht in unsere Blindheitsdunkelheit gebracht.

Brillen, die eine Sehbehinderung imitieren © Hannah Hofer

Verloren in der Dunkelheit
Zeit für den Selbstversuch. Zweierpärchen. Hände halten – fast wie in der Grundschule. Aber diese Sicherheit brauchen wir jetzt. Wir bekommen Brillen, die Sehbehinderungen imitieren. Brille auf, Realität mit Sehbehinderung an. Der Tunnelblick reduziert unser Sichtfeld auf 5 Prozent. Der imitierte grüne Star lässt unsere Welt schemenhaft verschwommen erscheinen. Jede noch so kleine Eisfläche wird zum tückischen Hindernis, Treppenstufen zu Stolperfallen und die Dunkelheit zum Feind. Im Keller fühlt man sich wieder wie ein Erstklässler. Schwarzer Text, Schriftgröße 12 – keine Chance, einen Buchstaben zu entziffern. Im Licht wird dann mühsam buchstabiert. Aber wenigstens ein Bild sollte man betrachten können! Vage „sieht“ man die Silhouette einer gelben Figur auf dunkelblauen Grund. Nur aus der Erinnerung der sehenden Realität baut sich das Bild zusammen. Blind hätte man nur raten können.
Schnell wird deutlich, wie essentiell große Schrift, Kontraste und Licht für Menschen mit Sehbehinderung sind. Ihr Weg durch die für uns alltägliche sehende Realität ist für sie ein verschwommener, durch eine geräuschintensivere Umgebung. Besonders der Hör- und Tastsinn leiten uns durch die sehkraftarme Welt. Links blitzt orange auf, dazu eine ruhige, gelassene Stimme mit Berliner Takt. Ein zögerliches „Mia?“ beweist, dass man eine Person nicht sehen muss um sie zu erkennen.

Gurke gleich Honigmelone? Bei der Blindverkostung ist der Geschmackssinn gefragt © Hannah Hofer

Gurke schmeckt wie Honigmelone
Klappt das auch mit Lebensmitteln? Das, was wir täglich beim Abendbrot so leicht als Karotte und Radieschen identifizieren, müssen wir jetzt blind erschmecken. Die Augenbinde, durch die wir nichts sehen, ist kein Problem, oder doch?
Schüsseln werden herumgereicht. Der Kohlrabi mit seinem stechenden Geruch ist leicht. Fast jeder erkennt ihn auf den ersten Riecher. Dann die Verkostung. Nase zuhalten, den Löffel in den Mund manövrieren und kauen. Komisch – Honigmelone um diese Jahreszeit? Finger von der Nase, Geruchssinn aktivieren. Die vermeidliche Honigmelone ist eine Gurke. So sehr verwunderlich ist die Verwechslung vielleicht nicht. Schließlich haben Honigmelone und Gurke eine ähnliche Konsistenz. Ein Sehender aber nimmt diese sonst nicht genau wahr, kann sie also kaum unterscheiden. Zweifelsohne ist das Geschmackserlebnis im Dunkeln intensiver. Ein „sehendes“ Mittagessen präferiert aber trotzdem jeder Teilnehmer.

Richtig helfen
Das nicht ohne Grund, denn keiner von uns möchte für das Essen auf Hilfe angewiesen sein, wie wir es als erfahrungslose Blinde wären. Wir möchten autonom handeln und selbst entscheiden. Genau so geht es auch den Menschen, die blind sind. Einige Sehende erkennen das aber nicht. „Es gibt Leute, die schieben einen tatsächlich einfach vor sich her. Sie packen einen am Rucksack und gehen los. Sie wissen doch gar nicht, wo ich hin will!“, berichtet Kerstin von einem Erlebnis an der Ampel. Sie empfiehlt: „Erst ansprechen, nachfragen, ob und wie man helfen kann. Vielleicht brauche ich auch keine Hilfe.“ Neben überfürsorglichen gibt es auch rücksichtlose Menschen: „Wenn mich im U-Bahnaufgang jemand anrempelt, sage ich,  ‘Ey, bist du blind?!‘ Manchmal denke ich, alle Menschen in Berlin haben einen Tunnelblick.“

Ab heute sind es sicher zwanzig weniger mit Tunnelblick. Kerstin hat uns die Augen geöffnet, für die Dunkelheit, die der Alltag vieler Menschen in Deutschland ist. Sie hat uns gezeigt, dass das Leben von Menschen mit Sehbehinderung genau so hell ist, wie unseres.